Fremder König Gast

Restaurant Owner Shaking Accountant's Hand --- Image by © MM Productions/Corbis

Das Verhältnis zwischen denen, die sich bedienen lassen, und jenen, die bedienen, erforderte schon immer Feingefühl. Aber die Dauerpräsenz des Themas Essen in den Medien verändert die Gäste. Ein Bericht aus dem Auge des Service-Orkans von Sommelier und Effilee-Autor Sebastian Bordthäuser.

Hamburg – „Wer nichts wird, wird Wirt“, lautet das altbekannte deutsche Sprichwort. Der Fisch stinkt immer vom Kopfe her, und so ist nicht der Wirt allein, sondern immer auch die Bedienung adressiert. Sie ist es, die Prügel bezieht, wenn die Service-Wüste Deutschland ihren garstigen Schlund aufreißt und mit schlechtem Atem den genusssüchtigen Gast verprellt.

Doch die deutsche Gastronomie steht mittlerweile unter anderen Vorzeichen. Nie ließ sich in Deutschland auf einem so hohen Niveau speisen wie heute, und auch der Service ist auf internationalem Spitzenniveau angekommen. Trotzdem halten sich Vorurteile länger, als einem lieb ist. Noch heute, zehn Jahre nach meinem Universitätsabschluss, muss ich mich immer wieder erklären, wie um Gottes willen ich denn in der Gastronomie landen konnte. Als ob mir das Bildungsbürger-Trottoir aus rotem Marmor einfach plötzlich unter den Füßen weggerutscht sei.

Das plausibelste Argument, nämlich, dass man das tut, was man liebt, scheint nicht recht anzukommen. Wie kann man es lieben, zu dienen? Und so hänge ich nun zwischen einer Horde tätowierter Köche und leichtfüßiger Zimmermädchen. Herrlich! Ich habe gern studiert, sage ich immer, und versuche es den Leuten nicht übel zu nehmen, muss mich jedoch manchmal etwas anstrengen dabei. Denn dann merkt man, dass man plötzlich am Scheideweg steht: Service vs. Gast. Du bist Kellner, und der Gast fordert Rechenschaft. Wie kannst du nur?

Essen und Trinken hat in Deutschland immer noch einen niedrigeren Stellenwert als in anderen europäischen Ländern, liest man immer wieder. Man mag meinen, nur die Schotten ernähren sich schlechter. Diese Unterschiede sind meist historisch herzuleiten. Es lohnt also eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Gastronomie, denn die Geschichte der Menschheit ist unweigerlich verknüpft mit der Kulturgeschichte des Essen und Trinkens.

Ein Nein gibt es nicht, darf es nicht geben

Und an dieser Stelle sollten wir die entscheiden Frage stellen: Wann kam es zur Trennung zwischen denen, die kochten, und denen, die aßen? Aus dieser Frage heraus entspinnt sich auch die Notwendigkeit, das Essen an den Tisch zu bringen: der Service. Und nun zu des Pudels Kern: Macht diese Arbeitsteilung einen sozialen Unterschied aus?

Die unbestrittenen Stars in der gastronomischen Landschaft sind heute Köche und Köchinnen, bekannt durch die Medien TV und Print und durch Gastroführer. Sie sind im Fernsehen, schreiben Bücher, geben Ernährungstipps, spielen Golf und werden auf Partys eingeladen. Die Gäste kommen in ihre Restaurants, um deren Küche zu probieren und vielleicht ein Foto mit ihnen zu ergattern. So weit die Außenwahrnehmung.

Im Alltag sind die Köche zum Glück meist sicher weggeschlossen in der Küche und hören entweder laut Punkrock oder richten, wie Chirurgen in einem Herzzentrum, hoch konzentriert mit Pipetten und Pinzetten die nächsten Teller für den Gast an. Zwischen den Fronten, Küche und Gast, steht der Service. Je höher das gastronomische Niveau eines Betriebes, desto höher der Druck. Druck der Fehlervermeidung in der Küche, und der Druck, den hochgeschraubten Erwartungen der Gäste standzuhalten.

Für den Service ist dies eine Art Zweifrontenkrieg. Denn Service ist, so einfach es von außen auch aussieht, heute eine hochkomplexe Angelegenheit. Man ist Telefonist, Pädagoge, weiß natürlich alles über Essen und Trinken, kann Gedanken lesen, hat mindestens drei Semester Psychologie studiert, ist niemals müde und vor allem kennt man kein Nein. Das Telefon klingelt: „Kannst du an deinen zwei freien Tagen einspringen?“ „Sehr gerne“, antwortet es. Es gibt kein Nein.

2. Teil: Der Service frisst seine Kinder

Große Häuser und Hotelketten haben heute eigene Standards, oft sogar ein eigenes Wording, das die Mitarbeiter zu verwenden haben. Diese sogenannten Servicestandards tragen teilweise bizarre Blüten. Versucht jemand, an einem seit Wochen völlig ausgebuchten Samstagabend um 17 Uhr einen Tisch zu bestellen, darf auf keinen Fall ein Nein über die Lippen des Service-mitarbeiters. Das ist negativ. Es muss immer positiv ausgedrückt werden, zu Gunsten des Gastes. „Leider haben wir in diesem Moment die unangenehme Situation, dass ich Ihnen diesen Wunsch nicht erfüllen kann“, muss sich der Service entschuldigen.

Diese Standards sind teilweise recht hochstilisiert, wie überzüchtete Rennpferde. Manchmal muss ich an diese neurotischen kleinen Hunde denken, die permanent hektisch hecheln und vor Stress dauernd pinkeln. Die Anforderungen werden immer höher, und so frisst der Service seine Kinder. Je höher die Kategorie des Restaurants, desto dünner wird die Personaldecke. Während die Küche kaum Probleme mit Nachwuchs hat, klagen viele Betriebe über zu wenig Berufseinsteiger beim Service.

Ein Blick in die dekorierten Häuser der Republik sagt einiges aus: Der Altersdurchschnitt liegt bei Mitte zwanzig für die Servicemitarbeiter, bei Restaurantleitern und Sommeliers gerne bis Mitte dreißig. Danach wird die Luft dünn. Den klassischen Maître, der über Jahre das Gesicht eines Hauses prägt, findet man nur noch höchst selten. Die Karriereleiter wird schnell erklommen, und dann heißt es: nix wie weg aus dem Restaurant, auf die Hotelfachschule, etwas Eigenes aufmachen, erst mal ein Kind kriegen oder sich generell neu orientieren, denn wer mag noch mit vierzig im Restaurant stehen?

Es wird viel unternommen, um Service zu einer messbaren Größe zu machen, die dem Gast einen gewissen Standard vermittelt. Dabei ist der Service ein höchst heterogener Komplex mit immer größer werdendem Aufgabenbereich. In einem Hörsaal in einer Vorlesung über neuere amerikanische Literatur sitzen eine Menge Leute, denen man ein gleiches Interesse unterstellen kann. Wahrscheinlich hat die Hälfte der Studenten sogar die gleichen Platten im Schrank. Im Service haben wir ein Tüte gemischtes Buntes: Vom Sonderschüler über den Gymnasiasten bis zum Waldorfschüler, vom Umschülern bis zu den Spätzündern ist alles dabei. Die Gastro nimmt sie alle auf.

Der Gast mutiert fröhlich zum Oligarchen

Aber es wäre zu einfach, die unterschiedlichen Bildungsniveaus zu bemühen, um zu zeigen, was für ein amorphes Konstrukt der Gedanke Service eigentlich ist. Denn jeder Einzelne fängt mit unterschiedlichen persönlichen Prämissen die Ausbildung an. Die einen arbeiten gerne im Team, andere schätzen die Möglichkeiten, ins Ausland zu kommen. Einige haben großes Organisationstalent, während andere besondere soziale Stärken mitbringen. Und natürlich die, die das festliche Ambiente und die Atmosphäre lieben und sich nichts Schöneres vorstellen können, als ihre Jugend in den brokatgeschmückten Hallen eines 5-Sterne-plus-Hotels zu verschwenden.

Doch das ist falsch. Ich sage nicht, dass es gelogen ist, aber es ist nicht richtig. Denn die richtige Antwort für eine Restaurantfachkraft muss lauten: „Ich liebe die Gastronomie, ich liebe Essen und Trinken.“ Absolut falsch ist die Aussage (der Shitstorm möge beginnen), dass die Zufriedenheit des Gastes das einzige Ziel unseres Arbeitens ist. Dass all unser Handeln extrinsisch auf das Wohl des Gastes gerichtet ist. Der darf sich bei solcher Aufmerksamkeit zu Recht gebauchpinselt fühlen und mutiert fröhlich zum Oligarchen.

Was hat der Wunsch eines 16-Jährigen nach einer Ausbildungsstelle im Gastgewerbe mit diesem Irrsinn zu tun? Die Motivation, eine Ausbildung in der Gastronomie anzutreten, darf nicht extrinsisch auf den Gast gerichtet sein, sondern muss einzig und allein intrinsisch funktionieren. Ohne Fragen um das Wohl des Gastes. Beginne ich zu hinterfragen, fängt das Fundament an zu wackeln. Und es droht Revolution.

Jonathan Meeses Diktatur der Kunst lässt sich gut auch auf die Gastronomie anwenden. Die Menschen müssen ihr Ego vergessen und sich in den Dienst der Kunst, ergo der Gastronomie stellen. Soldaten der Kunst, wie Meese es nennt. Kein schlechtes Beispiel eigentlich. Der Gast muss strammstehen vor den Soldaten der Gastronomie! Die Uniform haben wir immerhin schon an.

3. Teil: Jeder Gast ist eine neue Wundertüte

Genauso gravierend wie der Irrtum extrinsischer vs. intrinsischer Motivation ist das daraus resultierende Sprichwort: Der Gast ist König. Drehen wir den Spieß spaßeshalber einfach mal um: Während der Gast meist einem gewohnt standardisierten Top-Service gegenübersteht, bleibt diese Voraussetzung dem Service verwehrt. Ihm wird mit jedem Gast eine neue Wundertüte serviert.

Natürlich versteht der Service sein Handwerk und die Standards, er fliegt quasi mit Autopilot. Trotzdem ist die Begegnung mit dem Gast immer wieder aufs Neue eine individuelle Angelegenheit, bei der die Stimmung und die Bedürfnisse herausgefunden werden müssen. Warum kommt der Gast? Möchte er ein gutes Essen genießen, seiner Begleitung mit gefährlichem Halbwissen imponieren oder wird es ein Geschäftsessen? Diese Begegnung funktioniert nicht auf Grundlage von Hierarchien, sondern durch Intuition und Kommunikation. Das Restaurant ist kommunikatorischer Grundrahmen, eine Begegnungsstätte derer, die gern kochen, und derer, die gern essen. Es geht einzig und allein um Essen und Trinken. Und das soll Spaß machen. Doch dem Gast geht es mitunter um mehr.

Die Ansage „Der Gast ist König“ ist allein in Anbetracht der fortlaufenden Demokratisierung der Gastronomie nicht mehr haltbar. Jeder schaut Food TV, dort wird nur noch in Superlativen von Geschmacksexplosionen und Aromenfeuerwerken gesprochen. Alle kochen heute scheinbar zu Hause, und jeder trägt das Erlernte irgendwann stolz ins nächste Restaurant.

Der Gast mutiert zum Kritiker, es wird gebloggt, bewertet und geschrieben, was das Zeug hält. Die permanente mediale Präsenz des Themas Essen bekommt mitunter pornografische Züge. Es wird nicht mehr selbst gevögelt, sondern geschaut, wie die Profis es machen. Und dann sitzt ein Gast im Restaurant, der verunsichert ist und sich irgendwie mehr vorgestellt hat, weil nichts im Mund explodiert. Verunsicherung ist eine der häufigsten Quellen für Reibungen zwischen Service und Gast.

Neuerdings gibt es manchmal doch ein Nein

Aber ist es wirklich ein Grund sich die Laune und auch die seiner Begleitung zu versauen, nur weil es keine Cola light gibt, oder keinen italienischen Weißwein? Die Schwelle für einen normalen Menschen, in ein gutes oder sehr gutes Restaurant zu gehen, ist immer noch sehr hoch. Das liegt natürlich am Preis, aber auch maßgeblich an vielen, gut gepflegten Vorurteilen. „Steifer Service, alles so förmlich …“ usw. hört man immer wieder.

So etwas mag es vereinzelt noch geben, aber in den letzten Jahren haben sich nahezu alle Restaurants in bacchische Tempel der Lust verwandelt. Küche und Service machen sich permanent Gedanken, wie man Dinge optimieren und wie durch ein noch ausgefeilteres Angebot der Gast verwöhnt werden könnte. Keine Spur von Steifheit, stattdessen wird der Gast von jungem, kompetentem, progressivem und gut aussehendem Personal souverän an die Hand genommen.

Darauf muss man sich allerdings einlassen. Es funktioniert nicht, wenn man die genannten Vorurteile pflegt oder mit Erwartungen kommt, die zu befriedigen nicht im Angebot des Hauses liegen. Etwas zu wollen und nicht zu bekommen, ist ein weiterer Reibungspunkt zwischen Gast und Service, ein Relikt aus dem gastronomisch orientierungslosen Westdeutschland unter der absolutistischen Regierungszeit des Gastes.

Natürlich muss heute kein Gast strammstehen vor der marodierenden Truppe gastronomischer Revolutionäre: Es wird garantiert alles versucht, ihn zufriedenzustellen. Aber manchmal, und das ist gut so, gibt es neuerdings ein Nein zu hören. Das geschieht nicht, um den Gast zu ärgern, sondern es schärft das Profil des Hauses und wahrt die Interessen der Leute, die sich 16 Stunden am Tag um nichts Weiteres Gedanken machen als um ihren Job. Man darf sich heute als Betrieb nicht mehr verzetteln. Es gibt immer Alternativen zu dem, was dem Gast verwehrt wird, und diese werden in der Regel auch angeboten. Das bietet sowohl dem Haus als auch dem Gast die Möglichkeit der Versöhnung.

 4. Teil: Es geht um Starkult, nicht ums Essen

Im Falle einer Reklamation jedoch sagt der Gast oft einfach nichts, schreibt dafür im Nachhinein aber einen Beschwerdebrief. Oder greift auf ein Internetforum zurück. Er ereifert sich und schreibt, er wird ein Haus nicht weiterempfehlen, sogar seine Freunde davor warnen, dort auch nur einen müden Euro zu lassen. Wie viel Zivilcourage ein Bürger entwickeln kann, wenn ihm mal sein Essen nicht schmeckt, ist schon beachtlich. Und es ist schmerzlich mit anzusehen, unter welchem Aufwand einerseits der Service geschult wird, im Konfliktfall dann aber Sprachlosigkeit und schließlich Wut regieren.

Dabei geht es doch nur um Essen. Letztens gab mir ein Kollege einen Beschwerdebrief zu lesen, in dem sehr nette Gäste bitter enttäuscht waren, dass der Koch nicht am Tisch vorstellig wurde. Das sei eine Unverschämtheit und sie kämen nie wieder. Was soll man darauf antworten? Ein Stones-Konzert ohne Mick Jagger ist schwierig zu verkaufen. Aber hier ging es offenbar um fehlgeleiteten Starkult, nicht ums Essen.

Wir haben heute den Konflikt von völlig demokratisierten Verhältnissen und dem fehlgeleiteten, absolutistischen Anspruch des Gastes im Spannungsfeld mit einem heterogen-amorphen Service und dessen immer noch erwarteter Dienstleistungspflicht.

Der Gast, etymologisch hergeleitet ein Fremder oder Eindringling, ist ursprünglich nicht zwangsläufig positiv konnotiert. Er könnte einem auch den Schädel einschlagen, weil er ein Auge auf des Wirtes Tochter geworfen hat. Doch nach einer warmen Mahlzeit ist man meist milde gestimmt, und so setzte sich der Gast in heutiger Bedeutung durch und der Eindringling wurde vertrieben.

Und so wird heute nicht mehr gedient und es gibt auch keine Befehle mehr von oben. Der König ist entmachtet und zu Gast bei Leuten, deren Job es ist, Gastgeber zu sein. Und so wie Regeln den Service strukturieren, helfen gute Umgangsformen, mit den renitenten Kellnern zurechtzukommen. Der größte Fehler, der im Gastgewerbe von beiden Seiten gemacht werden kann, ist die Superbia, in einem Weltbestseller auch als einer der sieben Todsünden gelistet.

Es ist egal, was du bist, Hauptsache ist, es macht dich glücklich.

Es ist egal, was du isst, Hauptsache ist, es macht dich dicklich.

Es ist egal, was du fährst, solang du nur klärst, es hat ein Rücklicht.

(Farin Urlaub)

Zuerst erschienen im Manager Magazin.