Wieso ernähren wir uns alle wie Säuglinge?

Moderne Nahrungsmittel haben zu viel Zucker und sind weich wie Brei. Warum ernähren wir uns auf einmal alle, als wären wir Babys oder Greise? Einige Spitzengastronomen kochen jetzt dagegen an.

Die dampfende Brühe mit dicken, warmen Ramen-Nudeln, der mit Selleriestampf gefüllte irische Pie, der Pudding aus Chia-Samen und Kokosmilch oder das Cookie-Brötchen mit Artisanal-Eiscreme, heruntergespült mit einem extra-cremigen Smoothie auf Mandelmilch-Basis. Sie alle repräsentieren den neuen deutschen Gaumen. Es ist einer, der nach nach kulinarischer Innovation und Vielfalt verlangt, und nach einem anderen, gesund erscheinenden Fastfood-Angebot. Betrachtet man die Dinge, die sich diese neue Generation von „Foodies“ bevorzugt einverleibt jedoch genauer, stellt man fest: Der moderne Mensch ernährt sich immer süßer und weicher, mit Tendenz zum Breiig-Flüssigen.

Man könnte sie Wohlfühl-Essen nennen, die heute wieder so beliebten pochierten Eier, die Porridge-Frühstücke und die allgegenwärtigen „pork buns“, mit butterweich gegartem Schweinebauch gefüllte Brötchen aus gedämpftem Süßteig. Essen, das tröstet und schützt in unsicheren Zeiten. Darin liegt eine gewisse Ironie, offenbart sich hier doch gleichzeitig der Verfall unserer Esskultur: Was sich als Gegenmodell zum industriellen Fastfood versteht, bedient tatsächlich die gleichen primitiven Gelüste wie der widerstandslose Cheeseburger von McDonald’s. Zeitgenössische Nahrung, egal ob aus der Fabrik oder dem Foodtruck, steht für Infantilisierung und Regression. So, als wollten wir uns zu Säuglingen oder Kleinkindern zurückentwickeln – oder als seien wir frühzeitig vergreist.

Die wichtigste Komponente dabei ist der Zucker. Süße ist in jeder Kultur positiv belegt, während bitter, salzig und sauer Gewöhnungssache sind. „Unsere Vorliebe für Süßes ist unabhängig von Kultur und Lebensraum, sie ist angeboren,“ sagt der Lebensmittelphysiker Prof. Thomas A. Vilgis, der am Max-Planck-Institut in Mainz forscht. „Es gibt aber auch viel zu viele süße Tees für Kinder, die diesen nach dem Abstillen angeboten werden und damit diese Geschmacksrichtung fördern. Dadurch verzögert sich das Erlernen der Geschmacksrichtungen sauer, salzig und vor allem bitter. Präferenzen werden zu spät oder gar nicht mehr ausgebildet“, sagt Vilgis. „Das ist vermutlich eine Folge der Industrialisierung, da viele Lebensmittel, auch solche für Kinder, nicht mehr selbst zubereitet werden (müssen).“

Die Tatsache, dass zu viel Zucker krank macht, ruft mittlerweile sogar die Politik auf den Plan. Die dramatischen Folgen zu hohen Zuckerkonsums wie Diabetes, Adipositas oder Herz-Kreislauferkrankungen haben die Bundesregierung dazu veranlasst, über ein Konzept nachzudenken, das die Zuckeranteile in industriell hergestellten Lebensmitteln in den nächsten fünf Jahren um zehn Prozent senken soll. Was die meisten Menschen aber nicht wissen: Übermäßiger Zuckerkonsum schädigt auch nachhaltig unsere kulinarische Intelligenz, unser eigenes Regulativ, den Geschmackssinn.

Der süße Generalangriff auf die Geschmacksnerven findet aber nicht nur im Supermarkt oder am Imbissstand statt, sondern auch im Gourmetrestaurant. „Natürlich gibt es Ausnahmen, aber eigentlich kochen alle Köche in der deutschen Spitzengastronomie zu süß“, beschreibt Billy Wagner, mehrfach ausgezeichneter Sommelier und Inhaber des Sternerestaurants „Nobelhart & Schmutzig“ in Berlin diese geschmackliche Verniedlichung: Die Grenzen von salzig und süß verwischen, Gemüse wird dank Zuckerzugabe zu Nachtisch.

„Das kommt gut an. Man bedient so den erlernten Geschmack von Gästen, Restauranttestern und Food-Kritikern. Da immer nach demselben Muster gedacht wird, gleichen sich die Gerichte, und Zucker ist der Kitt, der alles zusammenhält“, sagt Wagner. „Dazu wird dann noch Riesling mit einem hohen Restzuckergehalt serviert. Trotzdem glauben alle, ein herzhaftes Gericht zu essen und einen trockenen Wein zu trinken, weil der Zucker so gut versteckt ist.“

Bedenklich: Zucker ist unbemerkt überall

Zucker ist überall – und tarnt sich bis zur Unkenntlichkeit. 2014 konsumierte jeder Deutsche durchschnittlich 37,6 Kilogramm Zucker. Dabei werden nur 16 Prozent tatsächlich in Form von Zucker aufgenommen, im Kaffee oder in Form von Süßigkeiten. Der Rest verbirgt sich dort, wo er eigentlich nichts zu suchen hat: in Wurstwaren, Käse, Fertiggerichten, Würzsoßen, Pizza, gefriergetrockneten Convenience-Produkten, Müslis. In der modernen Lebensmittelindustrie dient Zucker als Geschmacksverstärker und Konservierungsstoff.

Nebenbei ist er viel billiger als natürliche Zutaten, weil er in der EU subventioniert und so weitestgehend vom Weltmarkt entkoppelt wird. Der Verbrauch von Zucker ist zwar seit 1950 nur um knapp 10 Kilo pro Kopf gestiegen, hinzu kommen aber mehr als 30 weitere Erscheinungsformen von Zucker, die sich heute auf den Zutatenlisten neben den Zuckeraustauschstoffen drängen, um unsere Nahrungskette zu versüßen.

Immer mehr Süße bei herzhaften Gerichten

Diese bedenkliche Entwicklung haben einige deutsche Sterneköche, Patissiers und Sommeliers aufgegriffen und im vergangenen Sommer die Workshop-Reihe „Beyond Sweetness“ initiiert. Bei der ersten Zusammenkunft in Köln ging es darum, den klaren Geschmack von Produkten herauszuarbeiten, unbehelligt von der allgegenwärtigen Tendenz zur Süße.

Einer der Teilnehmer der ersten Ausgabe des Mini-Symposiums war der Spitzenkoch Nils Henkel. „Oft findet man gerade bei den eigentlich herzhaften Gerichten immer mehr Süße, die sich im Extremfall durch ein ganzes Menü zieht“, sagt Henkel. „Darunter leidet oft der Produktgeschmack und letztlich auch der Gast im Restaurant. Ich finde, es dürfte in der Spitzengastronomie ruhig etwas beherzter gewürzt werden. Auch Säure und Schärfe bringen klare Kontraste, die immer seltener werden.“

Zum Dilemma der allgegenwärtigen Süße gesellt sich ein weiteres Elend: der Brei. In Restaurants kommen Gemüse als getupftes Püree daher, eine Entwicklung, die seit rund zehn Jahren zu beobachten ist. Texturen wie aus dem Alete-Gläschen, als hätten wir alle keine Zähne. Warum aber sollten wir Brei essen? Warum muss blutiges Steak zart wie Butter sein? Altmeister Paul Bocuse hat völlig recht, wenn er behauptet: „Viele Menschen haben das Essen verlernt, sie können nur noch schlucken.“

Thomas Vilgis sieht diese Entwicklung etwas entspannter. „Über die Rolle von Püriermaschinen wie Pacojet und Thermomix in Spitzengastronomie wie Privathaushalten lässt sich sicher streiten“, sagt der Lebensmittelforscher. „In der Sterne-Gastronomie sind das durchaus zweckmäßige Hilfsmittel zur Geschmacks-, Aromen- und Texturbalance – sofern nicht übermäßig eingesetzt. Immerhin lässt sich damit der Einsatz von Zucker reduzieren oder sogar ganz vermeiden. Eine im Thermomix oder mit dem Pacojet zu sehr feinem Brei verarbeitete Karotte, Pastinake oder Petersilienwurzel schmeckt schon von sich aus so süß, dass hier jedes Gramm Zucker zu viel wäre.“

Wo ist eigentlich das Problem, könnte man fragen. Hauptsache ist doch, dass es schmeckt! Ganz so einfach ist es nicht, selbst wenn man die gesundheitlichen Aspekte ignoriert. Zum einen zeigt sich in der Infantilisierung unserer Nahrung ein weltanschaulicher Grundwiderspruch. Die Pommes frites werden nicht mehr aus der Plastiktüte aufs Backblech geschüttelt, sondern mit der Hand geschnitzt. Dafür sind sie jetzt aus Süßkartoffeln. Die Geste des Authentischen und Wertvollen wird also durch Zucker und geschmackliche Gemütlichkeit verkitscht.

Zum anderen ist Nahrung, mit der wir uns anstrengungslos wohlfühlen, stets die einfachste Lösung. „Die Kunst, die ich zunächst ablehne, wirkt am längsten nach“, sagt jeder Sammler von sich. Das Gleiche lässt sich auch aufs Essen übertragen, wenn man es denn als Kulturform begreift. Auch auf dem Teller hat ein wenig Überforderung noch niemandem geschadet.

Zuerst erschienen in meiner Kolumne in der Welt am Sonntag.
Illustration: André Laame