Typisch deutsch?

Nie zuvor wurde in Deutschland so gut gekocht wie heute. Doch leider gibt es keine gastronomische Kultur. Klingt hart? Ist aber so. Willkommen in der Realität. Deutschland ist weiterhin Spitzenreiter, wenn es um billigste Lebensmittel geht. In dem Zuge ist sogar „Bio“ im Discounter angekommen. Aber wenn es „Bio“ im Discounter gibt, gibt es kein „Bio“. Das Handwerk stirbt aus, normale Dinge mit purem Geschmack werden zu Delikatessen und deren Abbilder füllen als industrielle Geschmacksplagiate die Regale der Discounter.

Aber was passiert zwischen den Polen, zwischen Drei-Sterne-Restaurant und täglichem Toast? Interesse an gastronomischer Kultur ist vorhanden, man braucht nur den Fernseher anzuschalten. Seit Jahren wird gekocht, was das Zeug hält. Ein Feuerwerk nach dem anderen, es qualmt und raucht und zischt. Und dann sitzen die Leute im Restaurant und nichts explodiert im Mund. Ich fordere: Erklärt das Wort „Geschmacksexplosion“ zum Unwort des Jahrtausends. Leute, denen der einfache Geschmack nicht reicht, bemühen nun eine diffuse geschmackliche Meta-Ebene. Geschmack ist etwas, was man lernen muss, aber heute ist offenbar alles „Geschmackssache“. Niemand würde seinem Junior zum Führerschein einen Ferrari schenken, keiner beginnt mit John Coltrane, Musik zu hören und niemand kauft Haute Couture, wenn ihm ein dicker Pulli fehlt. Kurz: Die Profis kochen anders auf als man selbst zu Hause. Pornografie ist auch Illusion.

Die Sternefresser haben knapp 35.000 Follower auf Facebook, aber ich bezweifele, dass man die mal im Restaurant sieht. Der Gast erwartet vom Koch, dass er „ihn abholt“, dass ein Feuerwerk gezündet wird. Dabei ist Geschmack eine Sache, um die man sich nur selber kümmern kann, sonst klappt das auch mit dem Ausgehen schlecht. Job des Kochs ist es, zu kochen, und nicht Explosionen zu zünden oder Leute abzuholen. Essen und Trinken sind Genuss und Kommunikation, sprich Kultur, und nicht Unterhaltung oder Entertainment. Die TV-Formate sind Entertainment und generieren ein gesichtsloses Heer an Restaurantkritikern. Mucksmäuschenstill im Restaurant, starr vor Ehrfurcht der hochgastronomischen Inszenierung (obwohl das heute gar nicht mehr nötig ist), und abends wird schnell noch am Rechner bei Tripadvisor eine Kritik geschrieben. Die Leute scheinen sich nicht mal freuen zu können, nach dem Essen nicht spülen zu müssen.

Ein befreundeter Koch gab letztens einen Supper-Club. Zehn Gänge, mit Champagner vorweg, passende Weine, alles für ein Taschengeld. Ich frage einen der Gäste des Abends, wie es ihm gefallen hat. „Das Fleisch im Hauptgang war etwas trocken.“ Das war die lapidare Antwort, die einen ganzen Abend summierte, fünf Stunden Menü, Getränke, Gespräche, Gesellschaft, Lachen, Gläserklingen, weiße Jacketts und schöne Frauen. Manchmal denke ich, das Essen steht vor Gericht, und ganz Deutschland besteht aus Geschworenen. Typisch deutsch, sagte mein Freund Roberto achselzuckend.

Was ist das für eine Entwicklung? Geht aus, seid nett, öffnet den ersten Knopf beim Dessert, wenn der Ranzen spannt und ihr die Lampen an habt. Freut Euch über Eure schöne Begleitung. Und keiner muss spülen. Kein Drama, keine Inszenierung, denn es bleibt, was es ist: Essen und Trinken.

Welt Zuerst erschienen in der monatlichen Kolumne im Meiningers Sommelier

Ausgabe: 02/2015